Studientag zur Stiftung Attl
Anschauliche Geschichte der Stiftung Attl
Studientag der Barmherzigen Brüder in Neuburg
Knapp drei Jahre lang hat sich der Buchhändler und Historiker Reinhard Kreitmair mit der Geschichte der Stiftung Attl, einer Einrichtung für Menschen mit geistigen Behinderungen, befasst. Im Rahmen des 150-Jahr-Jubiläums verfasste er eine Festschrift, die am 7. März in Attl vorgestellt wird. Bei einem Studientag im Alten- und Pflegeheim St. Augustin in Neuburg am 15. Februar präsentierte Kreitmair den Barmherzigen Brüdern, welche die Stiftung fast 100 Jahre lang leiteten, einige Auszüge aus der Geschichte der Einrichtung.
Im Jahr 1873 kaufte der Orden der Barmherzigen Brüder das säkularisierte Benediktinerkloster Attl bei Wasserburg, idyllisch über dem Inn gelegen, von den Bierbrauerseheleuten Randlkofer. Am 17. Februar 1874 wurde die Stiftung Attl als Pflegeanstalt für männliche Unheilbare des Kreises Oberbayern in einer Vereinbarung zwischen dem Orden und dem bayerischen Staat errichtet. In der am 1. Oktober 1874 eröffneten „Anstalt Attl“ fanden Männer mit Behinderungen Aufnahme, die nach dem Stiftungszweck „jede mögliche Erleichterung ihres Zustandes“ erhalten sollten und „denen die gebotene ärztliche Hilfe“ gewährt werden solle.
Kreitmair machte die ersten Jahrzehnte der Stiftung anhand zweier Priorenschicksale sichtbar. Über den Prior Frater Ulrich Metzler gab es wilde Gerüchte über eine Affäre mit einer Kellnerin der Attler Gastwirtschaft, aber auch von Misswirtschaft und Gewalt gegen anvertraute Personen. Die Causa Metzler, der den Orden verlassen musste, fand keinen Widerhall in der örtlichen Presse. Um die Jahrhundertwende war Frater Makarius Wiedemann Prior und Anstaltsvorstand in Attl. Er sorgte 1902/03 für die bauliche Erweiterung des Hauses, sodass die Zahl der Bewohner beinahe verdoppelt werden konnte. Der Referent erläuterte die Symbolik des Sterbebilds von Frater Makarius, der 1907 aufgrund einer Blutvergiftung verstorben ist, nachdem ihm einige Wochen zuvor ein „Pflegling“ in den Daumen gebissen hatte. Das Sterbebild vermittelt die Botschaft, dass Wiedemann quasi ein „Opfer seines Berufs“ geworden sei.
Eingeschränkte Lebensmittelversorgung
Aus der Zeit des Ersten Weltkriegs berichtete Kreitmair vor allem von einer eingeschränkten Lebensmittelversorgung, die zum Hungerwinter 1916/17 führte, in dem außergewöhnlich viele Bewohner verstarben. Allerdings traf die Hungersnot mehr oder weniger das ganze Land, nicht nur Einrichtungen der Behindertenhilfe.
Auf eine ganz andere Weise bedrohte das Regime der Nationalsozialisten das Leben von Menschen mit Behinderungen. Eine Zwangssterilisierung auf der Grundlage des 1933 beschlossenen Erbgesundheitsgesetzes fand wohl in Attl aufgrund der isolierten Lage des Hauses keine Anwendung. Im weiteren Geschehen wurde die Anstalt Attl zwischen dem 14. und 22. September 1940 geräumt. 227 Pfleglinge wurden in Pflegeanstalten der Barmherzigen Brüder deportiert, die meisten jedoch in die staatliche Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar bei München. 103 Attler Pfleglinge wurden nachweislich ermordet. Die meisten wurden in Hartheim bei Linz getötet, manche kamen in staatlichen Anstalten durch die Verabreichung von Hungerkost ums Leben. 38 Pfleglinge durften in Attl bleiben, um die Landwirtschaft aufrecht zu erhalten.
Nach der Zwangsräumung des Hauses wurden in Attl bessarabische Umsiedler untergebracht, aber auch Angehörige der Hitlerjugend im Rahmen der Kinderlandverschickung. Schließlich wurde Attl 1941 ein Reservelazarett, insbesondere für lungenkranke und tuberkulose-infizierte Wehrmachtssoldaten. Attl wurde so, wie es Kreitmair bezeichnete, zu einem „militärischen Luftkurort“.
Am 2. Mai 1945 besetzten US-Streitkräfte Attl, der Lazarettbetrieb ging jedoch bis Ende August weiter. Das Haus diente zur Unterbringung von polnischen Displaced Persons und jüdischen Holocaustüberlebenden. Zum 1. Juni 1950 gab die amerikanische Kontrollbehörde Attl zur Wiederinbetriebnahme als Pflegeanstalt frei.
Übergabe an den Caritasverband
In einem letzten Schritt berichtete Reinhard Kreitmair von den Übergabeverhandlungen des Provinzials Frater Matthäus Heidenreich mit der Regierung von Oberbayern und dem Caritasverband der Erzdiözese München und Freising. Auch wenn sich der Orden aufgrund von Nachwuchsmangel – wie auch zuvor von der Stiftung Schweinspoint bei Donauwörth –aus Attl zurückziehen musste, so gelang es, mit der Übergabe an den Caritasverband am 1. Oktober 1970 den Fortbestand der Einrichtung für Menschen mit Behinderungen zu sichern und Arbeitsplätze von Mitarbeitenden zu erhalten.
Anhand von Ansichtskarten, Plänen und des Sterbebildchens von Frater Makarius Wiedemann verschaffte Reinhard Kreitmair den Brüdern einen visuellen Eindruck von der Geschichte der Stiftung Attl, die heute als Stiftung des bürgerlichen Rechts fungiert. Daneben zitierte der Historiker zahlreiche Quellen aus Protokollen des Bezirksamts Wasserburg, aus Gesetzen der NS-Zeit und aus der Zeit des Trägerwechsels. Er ermöglichte so, historische Bedingungen zu erkennen und die Vorgänge in ihrer Unmittelbarkeit besser zu verstehen. Eine heilige Messe in der Hauskapelle und das Mittagessen rundeten den informativen Studientag ab.
Frater Magnus Morhardt